Die Rigaer Zwillinge
Bevor wir den Artikel lesen, wollen wir noch dieses zur Kenntnis nehmen:

Frau Livia Juchter aus Berlin und ihre beiden Töchter übersandten mir die Abschrift eines Aufsatzes aus den "Kieler Nachrichten" vom 27.1.1952. Darin wird die seltsame Begegnung eines Holländers Pieter Juchter mit Arved Juchter in Riga geschildert.

Der Holländer stammt aus einem alten Jeverschen Juchter-Geschlecht, das wiederum von unseren Edewechter Vorfahren herkam (um 1200). Der Rigaer Juchter hat einen Ahnen, der 1699 vom Sahrener Hof ins Ostland fuhr. Die Sahrener Juchter sind Nachkommen der Stedinger Namensvettern, die gleich nach 1234 von Edewecht in die Wesermarsch kamen. Pieter Juchter aus Holland und Arved Juchter aus Riga müssen also 700 Jahre zurückgehen, um auf einen gemeinsamen Vorfahren zu kommen. Und nun lesen wir die folgenden erstaunlichen Zeilen.

Die Zwillinge von Riga (von Ludwig Finck)

Als Mynheer Pieter Juchter aus Amsterdam, ein Kaufmann, auf seiner ersten Fahrt an die Ostsee in Riga an Land ging, wurde er von einem behäbigen Einwohner begrüßt: "Tag, Herr Juchter!" Er glaubte, sich verhört zu haben und wunderte sich, dass hier jemand seinen Namen wissen sollte, wo er doch völlig unbekannt sein musste. Er begann aber an seinem Verstand zu zweifeln, als er durch die Straßen der Stadt schlenderte und hier und dort den Hut lüften musste, weil er überall freundlich mit "Guten Morgen, Herr Juchter!" angesprochen wurde. "Habe ich eine Visitenkarte an mir?", fragte er sich, "bin ich durch einen Steckbrief voraussignalisiert worden?"

Als er zum siebenten Male so angegrüßt wurde, stand er still und fragte den Herrn: "Bitte, woher kennen Sie mich?" Der Angesprochene machte ein Gesicht, als sei er nicht ganz bei Trost. "Aber ich werde doch noch Herrn Juchter aus der Grafenstraße kennen. Waren Sie verreist?" "Ich heiße wohl Juchter", erwiderte Mynheer Pieter, "aber ich bin zum ersten Male in meinem Leben in Riga. Ich wohne in Amsterdam".

Der Rigaer wollte sich schief lachen. "Sie belieben zu spaßen, Herr Juchter, oder Sie sind Nachtwandler. Sind wir nicht vorige Woche noch im Hotel ’Schwarzer Adler’ zusammengesessen? Haben Sie Ihr Gedächtnis verloren?" "Dann muss ich einen Doppelgänger in Riga haben", durchfuhr es Pieter. "Wollen Sie mich", bat er, "nun ja, in meine Wohnung führen?" Und der Einheimische führte ihn und er war starr, als er im Hause Schlossstraße 17 (Pils Straße)  zwei Männer sich gegenüber sah, die, wenn auch in verschiedenen Kleidern, ein und dieselbe Person zu sein schienen-- Brüder, Zwillinge, selbst aufs höchste betroffen: Arved Juchter aus Riga und Pieter Juchter aus Amsterdam. Sie hatten die gleichen hellblonden Haare, die stahlblauen Augen, die schmale scharfe Nase. Sie konnten einander selber verwechseln.

Ein Gespräch war rasch im Gange, Die Herren hatten sich erst mit Staunen betrachtet wie in einem Spiegel und stellten nun Fragen aneinander, als wären sie vor Jahren auseinander gegangen usw. (So weit die Zeitung).

Frau Livia Juchter, Schwiegertochter des Rigaer Juchter, war Zeuge dieser Begegnung. Sie schrieb mir: Es muss im Jahre 1910 gewesen sein, als die beiden sogenannten Zwillingsbrüder sich kennen lernten. Damals war mein Schwiegervater schon ein alter Herr und Pieter Juchter etwas jünger. Die Schwiegereltern kamen zum Abendbrot mit dem Hollandgast zu uns. Es wurde ein äußerst interessanter und gemütlicher Abend mit Vergleichsanstellungen in Bewegung und Gewohnheiten. Sogar die auffallend gekrümmten kleinen Finger der beiden Herren erregten Verwunderung. Tatsächlich, man konnte nur staunen.


Die "Zwillinge von Riga" beweisen eindringlich, wie stark die Blutsverwandtschaft in unserm Geschlecht ist und wie kräftig die Erbanlagen durchschlagen. Alle Juchter und Jüchter haben die gleichen Ahnen . Sie waren und sind darum zu allen Zeiten und an allen Orten gleichermaßen miteinander verwandt. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns kennen oder nicht, oder wenn sich Familien jahrhundertelang nicht begegneten. Wie konnte sonst nach 700 Jahren eine Zwillingsähnlichkeit entstehen zwischen zwei Namensträgern, die zeitlich und räumlich so weit auseinandergeraten sind. Keine Weltanschauung, kein politisches Bekenntnis kann das Ahnenerbe zerbrechen, also auch nicht die Blutsgemeinschaft, die Verwandtschaft.

"Es ist ein Gemeinsames da in Haltung, Mienen, Gebärden, Sprechweise und erst recht im Seelischen, gleichsam ein Erbgesicht". Hätten wir Fotos oder Bildnisse der ritterlichen Juchteren um 1200, mancher von uns würde staunen über seine Ähnlichkeit mit den Vorfahren. Unlängst schrieb mir ein Namensvetter: "In dem Orte X. wohnt auch noch ein Jüchter, mit dem ich aber nicht verwandt bin." Natürlich ist er mit ihm verwandt.

Wir ziehen den Kreis unserer Verwandten zu eng. Außerhalb unserer Familie (Kinder, Eltern, Großeltern) besuchen wir nur noch die Tante, den Onkel, Vettern und Kusinen, Schwager, Schwägerin und die Schwiegereltern. Damit hört die Verwandtschaft auf. Wir sollten ihre Grenzen weit über den Onkel-Tanten-Horizont hinausschieben. Wer verreisen will, könnte gut ein paar Anschriften aus unserer Liste mitnehmen, um Namensvettern aufzusuchen, die in seiner Reiserichtung wohnen. Er wird prächtige Menschen antreffen, oft überrascht sein über Gemeinsames, vielleicht sogar noch eine Zwillingsähnlichkeit entdecken. Ich will aber keineswegs einem Verwandtenkult das Wort reden, sondern nur empfehlen, mehr als bisher das Gefühl der Zusammengehörigkeit in unserm Geschlecht wach werden zu lassen. Manche Geschlechter haben regelmäßig ihren Familientag. Adolf Jüchter, Itzehoe, meint: Alle Juchter-Jüchter treffen sich in 1 oder 2 Jahren in Bremen.

Noch eins zeigt die Adressentafel: Unser Geschlecht hat das Glück, viel bäuerliche Menschen zu haben, die unter der ungestörten Einwirkung der Naturgesetze ihrer Arbeit nachgehen, unverbraucht, Ruhe ausstrahlend über Gesicht und Gestalt. Sie garantieren am sichersten den Bestand unserer Sippe. Aber auch der Großstadtmensch nimmt in unserm Verzeichnis einen breiten Raum ein. Er hat den Mutterboden natürlicher Lebensverhältnisse aufgegeben: er zeigt das tragische Gesicht unserer Zeit, mit der er vorwärts hastet. Es wäre gut, wenn Namensvettern aus Land und Stadt oft einander begegneten. Beide Gruppen sind in der Liste bewusst nebeneinandergestellt. Ich verabschiede mich von allen meinen Verwandten mit dem alten Oldenburger Gruß: 

“Lat jo goot gahn!”

Hinr. Jüchter

(aus: Juchter-Juechter : Die Geschichte eines alten Oldenburger Geschlechtes in 6 Abschnitten; Hinrich Tönjes Diedrich Juechter, Hamburg 1959)